Pressiert´s Dir?
Kennst Du das: Du willst noch „ganz kurz“ bei jemandem vorbeischauen, etwas abgeben, etwas abholen, und dann verquatschst Du Dich, trinkst vielleicht doch noch einen Kaffee, kommst von Hölzchen auf Stöckchen (übrigens umgangssprachlich von „den Faden verlieren“, wenn sich ein Gespräch so verzweigt, dass man vom Hundertsten, also dem Hölzchen, aufs Tausendste, das kleinere Stöckchen, kommt, ein gutes Beispiel passiert gerade hier, was wollte ich noch gerade schreiben?).
Kurz: Plötzlich schaust Du auf die Uhr und sagst: „Oh, mir pressiert´s! Lass uns ein anderes Mal weiterreden.“
Oder Du wirst gefragt, wann Du ein ausgeliehenes Buch zurückhaben willst und winkst ab: „Ach, das pressiert nicht…“
Manchmal frage ich mich, was eigentlich wirklich pressiert, was eilt, was drückt, was will sich einfach meine Zeit nehmen und wie bekomme ich sie zurück? Klar, es gibt Dinge, die dringend sind, Abgabetermine, Ablaufdaten, die ersten Posten auf meiner To-do-Liste. Aber was davon ist, wenn wir mal die Luft rausnehmen, wirklich wichtig? So wichtig, dass es Vorrang vor allem anderen bekommt?
Gerade in der Lockdown-Zeit, die man sich fast schon gar nicht mehr vorstellen kann, war plötzlich nichts mehr dringend, alle Termine im Kalender durchgestrichen – die schönen wie die unangenehmen. Alles war ausgebremst. Und, mal ehrlich, wer von Euch hat in der langen Zeit, in der nichts mehr pressierte, seinen Keller ausgemistet, ein neues Hobby angefangen, begonnene Projekte fertiggestellt, so wie wir es uns immer vornehmen, „wenn mal Zeit ist“? Ich nicht.
Also was ist, wenn wir einfach zu jeder Zeit selbst bestimmen können, was uns drängt? Wenn wir genau zuhören, ob das Gegenüber noch einen zweiten Kaffee braucht, um auf das Thema zu kommen, das es eigentlich gerade beschäftigt? Wenn wir uns doch mal bewusst dafür entscheiden, einen Tag Handy-Auszeit zu planen? Ich hatte mir das für die Zeit zwischen den Jahren fest vorgenommen, und dann doch nicht umgesetzt. Was passiert, wenn wir unsere To-do-Liste nicht nach Terminen ordnen, sondern danach, was uns persönlich wichtig ist?
Ich habe schon oft gemerkt, was in Gesprächen in den Vordergrund rückt, wenn man plötzlich aus dem Alltag genommen wird, wenn jemand krank wird, man jemanden verliert, wenn man Angst um die grundlegendsten Dinge bekommt. Nähe wird wichtig, Augenkontakt, wirklich gesehen zu werden. Mein Blick verschiebt sich, die Perspektive wechselt, und ich merke, dass es sein könnte, dass es nicht eilig ist mit der Wäsche. Dass keine Polizei kommt (und mich das auch nicht stören würde), wenn ich prokrastiniere, dass ein Freund erleichtert aufatmet, wenn er in meine Wohnung kommt und sagt: „Ein Glück, bei Dir sieht’s ja auch so schlimm aus!“
Ich will nicht, dass mir etwas pressiert. Ich will die Zeit behalten und sie mir nehmen, um Dinge zu sehen und zu tun, die mir wichtig sind. Ich will meine Perspektive zurechtrücken und in den Blick bekommen, was mich glücklich macht. Eine Tasse Kaffee und ein Buch. Eine Umarmung von meinem Sohn. Laut im Auto singen mit meiner Tochter. Ein Spaziergang nur zum Fotografieren mit meinem Freund. Mit meiner besten Freundin von der Sonne schwärmen. Mit meinem Bruder so sehr lachen, dass wir grunzen.